Experten-Rückblick mit Prof. Dr. Matthias R. Lemke

„Ich bin erschöpft – was tun?“
Foto Prof. Matthias R. Lemke
Prof. Matthias R. Lemke

Prof. Matthias R. Lemke ist Psychiater und Ärztlicher Direktor der Heinrich Sengelmann Kliniken. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Diagnose und Behandlung von Erschöpfung. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Betroffenen, die wegen Erschöpfung ärztlichen Rat suchen, gestiegen. Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg haben dazu beigetragen. Wie kommt man wieder ins Gleichgewicht?

ESA: Herr Prof. Lemke, Erschöpfung ist ähnlich wie Angst ja erst einmal ein „gesundes“ Signal unseres Körpers, das uns vor Überlastung schützen soll. Wann werten Sie Erschöpfung als Krankheitsbild?

Prof. Lemke: Dabei schauen wir auf viele Faktoren, die eine Rolle spielen können: Liegt eine körperliche oder psychische Erkrankung zugrunde, zum Beispiel Krebs, eine Stoffwechselstörung oder Depressionen? Sie tragen häufig dazu bei, dass jemand sich sehr erschöpft fühlt. In welchem Verhältnis steht das Gefühl der Erschöpfung zu vorausgegangenen Aktivitäten? Bessert sich die Erschöpfung durch Schlaf oder Erholung? Wie sieht es mit der kognitiven Belastung aus, den Arbeitsbedingungen? Die Diagnose ist komplex. Vereinfacht gesagt: Wenn jemand länger als sechs Monate sehr erschöpft ist, keine körperliche Erkrankung zugrunde liegt, sich die Erschöpfung bei Anstrengung verschlechtert und durch Schlaf nicht bessert – dann sprechen Experten vom „CFS“, dem Chronic Fatigue Syndrome.

ESA: Was sind die Ursachen für chronische Erschöpfung?

Prof. Lemke: Auch hier tragen verschiedene Faktoren dazu bei, dass sich eine chronische Erschöpfung entwickeln kann. Nehmen wir das Bild vom inneren Gleichgewicht: Das ist bei chronischer Erschöpfung aus der Balance geraten. Anstrengung und Erholung, Stress und Entspannung gleichen sich nicht mehr aus. Wie anstrengend oder stressig jemand etwas empfindet und welche Möglichkeiten der Entspannung zur Verfügung stehen, ist individuell unterschiedlich. Schwierig wird es, wenn dies aus dem Gleichgewicht gerät. Wir wissen zum Beispiel, dass starke soziale Beziehungen uns stärken. Diese waren während der Pandemie jedoch über lange Zeiten eingeschränkt, das stresst. Interessant ist auch der Zusammenhang unseres Selbstbildes, der Erwartungen an uns und der Realität: Das passt manchmal nicht zusammen, denken wir nur an aktuelle Konzepte der „Selbstoptimierung“ oder ständige Vergleiche über Social Media. Das trägt zu Erschöpfung bei.

ESA: Wie kann chronische Erschöpfung behandelt werden?

Prof. Lemke: Erst einmal: akzeptieren, wie es ist, und sich von vielen Vorstellungen, wie etwas sein sollte, verabschieden. Dann kommt es auf das richtige „Pacing“ an – also die Belastungsfähigkeit in kleinen Schritten wieder aufzubauen. Dabei ist Überforderung absolut zu vermeiden, das wirft einen wieder weit zurück. Patientinnen brauchen also ein gutes Gespür für die eigenen Grenzen und gleichzeitig Mut, etwas auszuprobieren. Und Patientinnen wie Behandler*innen brauchen viel Geduld.

ESA: Wie kann ich chronischer Erschöpfung vorbeugen?

Prof. Lemke: Wenn wir wieder stärker auf unser inneres – seelisches, geistiges, körperliches – Gleichgewicht achten. Wissen Sie, was Ihnen guttut, was Sie persönlich entspannt? Hat das genug Raum in Ihrem Leben? Was sind Ihre größten Stressoren? Können Sie diese entschärfen, zum Beispiel durch andere Arbeitsbedingungen oder weniger hohe Ansprüche an sich selbst? Ein sogenanntes „Achtsamkeitstraining“ hilft dabei, sich selbst besser kennenzulernen. Ganz grundsätzlich wissen wir: Eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung, starke soziale Bindungen zu Familie oder Freunden, gewisse Herausforderungen – und das Gefühl: „Hier bin ich genau richtig, es ist gut, was ich mache“ – machen uns zu widerstandsfähigen Menschen, die viele Krisen bestehen können.

ESA: Vielen Dank für das Gespräch!

Wer mehr über das Thema „Wege aus der Erschöpfung“ lesen will: Ärzteblatt-Artikel – pdf.